Nenn mich Hexe ...

oder nenn mich, wie du willst. Denn wie das Wort, das du für mich verwendest, ist auch der Ort, an dem du mich findest, doch eigentlich Willkür.

Schrieb ich den ersten Blog-Artikel am letzten Platz des Zugs, in dem ich damals saß, entsteht der heutige auf meinem Lieblingsplatz am heimischen Herd, der heute weder Wärme noch Nahrung spendet, sondern Worte. Focus = Herd und Feuerstätte, und so sehr ich auch versuche, ihn zu halten, den Fokus, es gelingt mir meist nicht so, wie ich es gerne hätte. Und so lass ich mich auch diesmal führen von meiner Intuition und gehe: weg vom Herd, raus aus der Hexenstube, erst mal frühstücken. Und plötzlich macht sich die tüchtig wuchernde Artemisia bemerkbar und zieht für eine Weile die volle Aufmerksamkeit auf sich. „Du wieder!“, reagiere ich auf ihre Präsenz. „Du wieder! Hast du mich mal wieder hinters Licht geführt, bevor ich mich auf meinen nächsten Beitrag fokussiere?“ Sie nickt. Zumindest deute ich die auf- und abwippenden Blätter an den dicken Stielen als ihr Ja auf meine Frage. Na dann, du geweihblättrige Hexenfrau, wozu rätst du? „Innenschau“, sagt sie und nachdem ich weiß, dass sie für gewöhnlich mehr zu sagen hat, gebe ich uns Zeit.

Früher hab ich einen großen Bogen um Artemisia gemacht. Zu groß erschien sie mir. Und jetzt, einige Jahre später, steht sie in ziemlich beachtlicher Größe physisch ganz manifest in meinem Garten. Ich hab nach wie vor Respekt. Doch mittlerweile weiß ich mit ihr umzugehen und mit mir, wenn sie mal wieder drauf und dran ist, mich zu verunsichern. Sie ist mir Lehrmeisterin und ich aufgerufen, mit ihr zu arbeiten, ihre Botschaften zu integrieren, ihre Gestalt zu nutzen und sie für mich und andere hilfreich zu bereiten.

„Die dicken Triebe nimmst du als Besenstiele und die untersten Blätter zum Räuchern. Binde Bündel aus den langen, feinen Trieben und versuche mich zu vermehren, über die kleinen Samen, die sich aus den Blüten bilden.“

„Aber wenn ich dich erst geschnitten habe, werden keine Blütensamen entstehen.“

„Vom Denken kommen keine Räucherbündel, Kleines. Davon kommt nur trockenes Geäst.“

„Dann schneide ich den ersten Trieb und warte, was mir als nächstes geraten wird. Und noch einen schneide ich und trenn auch ihn in seine einzelnen Teile auf. Die untersten Blätter von den feinen Trieben und den dicken Stängeln behalte ich als Besenstiel.“

Und so sind am Ende des Tages fünf kleine Räucherbündel entstanden, die untersten Blätter trocknen auf einem Sieb und die Besenstiele rasten, bis sie ihre Verwendung finden. So wie der letzte Trieb darauf wartet, erst seine Blüten auszubilden und sie dann irgendwann in feine Samen zu verwandeln, die Ihren Zyklus im nächsten Jahr wieder von vorn beginnen lassen.

„Gut gemacht. Komm doch das nächste Mal gleich zu mir wenns dir am Fokus fehlt.“